Teilhabe – Freiheit, die durch die Demokratie gewährleistet wird, ist nicht kostenlos

Wir leben in einer überlebten Demokratie. Das predige ich schon lange. Predigen ist einfach. Man stellt sich vor eine Menschenmenge und spricht über die eigenen Überzeugungen und Glaubensgrundsätze. Natürlich mit der Haltung, dass das, was man zu sagen hat, richtig ist. Aus tiefstem Herzen und aus einer reflektierten Geisteshaltung heraus. Um ehrlich zu sein, ist die Menschenmenge in der Regel nicht so wahnsinnig groß. Oftmals sind es kleine, familiäre Runden, in der Kneipe, im Park oder einfach in der Bahn.

Mit dem Lenken der Aufmerksamkeit auf die vielen Aspekte, die politisch und gesellschaftlich sowie zwischenmenschlich schieflaufen, ist es allerdings mit Nichten getan. Auch wenn das Gewissen beruhigt und getröstet wird. Ausruhen ist also nicht mehr. Worte sind wichtig, Worte können Waffen sein, sie zielen genau ins Herz, bewegen Menschen und Gemüter, machen glücklich und traurig, verzaubern und verleihen der Fantasie Flügel. Sie dringen in die Köpfe der Menschen, aber sie verhallen; Es sei denn, sie stoßen auf Interesse oder Widerstand. Diskussion können heiß und scharf sein, laut und leise und ihre Früchte gehen in Gedanken über und werden vielleicht irgendwann zu Überzeugungen. Oder leiten die Gedanken zumindest auf eine Umleitungsstrecke, mit alternativen Routen und Parkbuchten, drosseln die Geschwindigkeit auf den eingefahrenen Bahnen des angehäuften und tiefverwurzelten Weltwissens und des Verständnisses der Gesellschaft, das jeder von uns besitzt.

Reicht das aus?

Worten müssen Taten folgen. Taten zählen mehr als Worte. Worte sind vergänglich. All das sind Redewendungen, die ihren Ursprung ebenfalls wie die Gefühle und Gedanken zumindest zum Teil in der Vergangenheit haben. Wir benutzen sie unbewusst, wissen aber genau, welche Aussage wir mit ihrer Hilfe tätigen wollen. Wir wollen aufrufen, wachrütteln, mahnen, appellieren und motivieren. Uns und in erster Linie andere. Wie schwer es sein kann, den Worten auch Taten folgen zu lassen, spiegeln die Gesellschaften der westlichen Welt wider. Wir wissen vieles, informieren uns, gehen wählen – im besten Fall – ärgern uns über die Nachrichten, Trump, Putin, Krieg, Missbrauch, Verletzung der Menschenrechte usw. – aber wir stehen nicht auf. Wir gehen nicht raus und schreien aus tiefster Seele, weil unser Herz aufgrund der unzähligen Verletzungen der Freiheit und der Würde des Menschen blutet. Wir bleiben sitzen. Warten. Lesen. Sprechen. – dann folgt die Bequemlichkeit. Die digitale Welt erlaubt uns eine Teilhabe an Schicksalen, Geschichten und der internationalen Politik. Wir werden nahezu zeitgleich unterrichtet über das Geschehen auf der Welt. Natürlich mit der Einschränkung, dass all diese Infos gefiltert, geschliffen, gebügelt und zu aller erst selektiert sind. Diese Tatsache blenden wir aus. Wir müssen diese Tatsache ausblenden, denn ansonsten stünden wir schreiend auf der Straße, auf dem Balkon oder aber im Garten – da bin ich sicher.

Teilhabe ist nicht Konsum. An etwas teilhaben bedeutet nicht nur Anteil nehmen, mitfühlen, sich einfühlen, gedanklich dabei sein und profitieren. Teilhabe bedeutet bis zum „Haben“ im Sinne von „Besitzen“ etwas zu tun. Sich einzusetzen, hineinzudenken, mit zu gehen, zu leiden, sich zu freuen und diese Gefühle und Emotionen mit anderen Menschen zu teilen. Teilen können wir dann, wenn wir aktiv werden, Kommunikation fördern und einen aufrichtigen und unverblümten und ungeschönten Austausch pflegen.

Der Teil mit der Aktivität überfordert die Demokraten im 21. Jahrhundert. Dieser Teil ist unbequem. Er fordert Raum, Geduld und Zeit. Die Überwindung von Vorurteilen, das Erheben über die Privilegien und Mut. Warum sollten wir auch Aufstehen und rausgehen? Wir kennen keine Not, wir leiden keinen Hunger, wir frieren nicht und leiden keinen Durst. Diese Zustände sind Abstrakta für uns. Auch wenn wir mit menschlichen Schicksalen konfrontiert werden, die genau diese Nöte erleiden, dann doch nur auf dem Papier, dem Fernseher oder dem Handy. Im digitalen Raum, in dem wir zwar immer mit einem Fuß unserer Aufmerksamkeit stehen, ihn aber wegziehen können, wenn es uns unangenehm wird. Dann treten wir auf die Straße, schauen in die Sonne und freuen uns auf den Nachhauseweg in der klimatisierten Bahn.

Fragen wir uns erneut: „Reicht es aus zu predigen?“ Nein, denn das, was es zu sagen gilt, entfaltet seine Wirkung nicht auf einer Einbahnstraße. Predigen ist leicht in einem Land, in dem die Versammlungs- und Meinungsfreiheit konstitutionell verankert sind. Niemand stört sich ernsthaft an einer Predigt, solange der Betreffende entscheiden kann, ob er zuhören möchte oder nicht, einschalten möchte oder nicht, die App öffnen möchte oder nicht. Die überlebte Demokratie in dem Land in dem wir leben, die Flüchtlinge vor der italienischen Küste, die Waisen in den Flüchtlingslagern an der türkisch-syrischen Grenze, die jugendlichen Opfer der Amokläufer in den USA, die bestialischen Leiden der Tiere in der Fleischindustrie, die Erderwärmung, Feinstaubbelastung usw. all das MUSS uns nicht interessieren. Das suggeriert uns das heilige digitale Zeitalter. Das Angebot an Unterhaltung und Zerstreuung ist groß. Die Pflege unserer Social Media Accounts nimmt uns in Beschlag in den kurzen Pausen, die unser arbeitsreicher Alltag uns lässt und der Stress, gegen den wir in unserem engen Zeitplan noch die Yoga-Stunde packen, schnürt uns die Luft ab. Individualität kostet Zeit.

Wir haben scheinbar vergessen, was Demokratie eigentlich bedeutet. Nicht nur der ideelle Wert dieser Staatsform in Sinne von Geschenk, das Dankbarkeit erzeugen sollte. Auch im wortgeschichtlichen Sinne. „demos“ bedeutet „Volk“ und „kratie“ bedeutet „Macht“. Wir gebrauchen unsere konstitutionell verliehene Macht dazu, unser Instagramprofil zu pimpen, mehr Geld zu verdienen, um es in Konsumgüter zu investieren und uns selbst als unabhängig zu feiern. So funktioniert die Geschichte mit der Macht allerdings nicht. Macht bedeutet Verantwortung. Und im politischen Sinne meint Verantwortung immer auch soziale Verantwortung. Teilzuhaben an der Gesellschaft. Als aktives Mitglied. Das ist keine Empfehlung, sondern eine Pflicht.

Freiheit, die durch die Demokratie gewährleistet wird, ist nicht kostenlos. Nicht nur unsere persönliche Freiheit ist Teil der Abmachung, sondern auch die aktive Gestaltung und die Übernahme von Verantwortung innerhalb unserer Gesellschaft. Teilhabe am Gesellschaftsleben ist der Preis, den es zu investieren gilt und der eigentliche Sinn, das erstrebte Ergebnis aller Freiheitskämpfe der letzten Jahrhunderte. In der französischen Revolution ging es nicht darum, das Leben im privaten Raum zu verteidigen, sondern für politische Mitbestimmung und das Recht auf Mitgestaltung des öffentlichen Raums auf die Straße zu gehen. Diese Errungenschaft ist uns lästig. Deshalb habe ich das Gefühl, dass wir die Demokratie satthaben – also überlebt haben. Wir haben buchstäblich die Schnauze voll. Richten uns ein in unserem beheizten Schneckenhaus, lassen uns von Amazon und Foodora beliefern und feiern den Fortschritt. Hoffentlich werden wir nicht irgendwann überrollt und müssen aus den Scherben unseres Schneckenhauses Neues schaffen, was uns neugeborene Nackte schützt und bewahrt vor allem Unheil. –

Oder wir fangen wieder an uns für die Welt zu interessieren, durch die wir leben dürfen.

https://www.dtv.de/buch/hannah-arendt-die-freiheit-frei-zu-sein-14651/

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