Wie gut es tut, sich richtig zu streiten. Natürlich unter der Prämisse, dass die Basis nicht ins Wanken gerät. Streitkultur ist nicht nur auf globaler Ebene wichtig für die Demokratie und die politische Partizipation sowie die gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch auf der persönlichen Ebene. Um auf den berühmten gemeinsamen Nenner zu kommen, ist oftmals eine intensive Auseinandersetzung über persönliche Ansichten, Ängste und Grenzen erforderlich. So sehr ich Harmonie zu schätzen weiß, so wichtig bleibt mir dennoch der ehrliche und aufrichtige Umgang in zwischenmenschlichen Beziehungen, auch wenn das bedeutet, dass zuweilen Funkstille herrscht.
Doch was passiert, wenn keine Partei bereit ist, den eigenen Stolz beiseite zu lassen, um den Kontakt wieder aufzunehmen? Wenn die Situation so prekär oder die Meinungsverschiedenheiten so unüberwindbar scheinen, dass nach dem Sturm keine Einigung erfolgt, keine Annäherung mehr möglich ist?
Noch schlimmer, was passiert, wenn keine Zeit mehr bleibt, um sich wieder zu vertragen? Wenn wir vor die Tatsache gestellt werden, dass der Mensch, mit dem wir keinen Kontakt mehr haben, aus dem Leben gerissen wird?
In meiner Familie hat es diesen Fall gegeben. Und was jetzt bleibt ist nicht nur Fassungslosigkeit und Trauer, sondern auch unbändige Wut darüber, dass man nicht früher gehandelt hat. Jeder Tag hätte der Tag sein können, an dem man zum Telefonhörer greift und den ersten Schritt macht. Natürlich mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Wohlwissend, dass dieser Versuch auch nach hinten losgehen kann und man nichts erntet außer einer Abfuhr oder Schweigen. All dies scheint mir jetzt eine verschwindend geringe Gefahr zu sein im Angesicht der Tatsache, dass ich keine Möglichkeit mehr haben werde zu erfahren, was passiert wäre. Wenn ich mir mehr Zeit genommen hätte zu bemerken, wie viel Zeit vergangen ist, dann müsste ich jetzt nicht damit leben einen lieben Menschen verloren zu haben, dem ich nicht mehr sagen konnte, wie dankbar ich ihm für alles gewesen bin, was er getan und bewirkt hat.
Hätte ich mir nicht nur Zeit genommen, sondern mich ernsthaft mit der Perspektive dieses Menschen auseinandergesetzt, dann hätte ich wohl nicht nur mir Leid erspart, sondern auch meinem Gegenüber, darüber bin ich mir bewusst und mit dieser Schuld muss ich jetzt leben.
„Jetzt ist es zu spät“. Und wieder Mal erhält eine sprachliche Wendung eine erweiterte persönliche Bedeutung für mich. Es ist nun nicht mehr nur zu spät, um noch pünktlich zu kommen oder zu Abend zu essen, sondern es ist gänzlich zu spät. Der Zeitpunkt kommt nie wieder zurück, nicht morgen, nicht nächste Woche und auch nicht nächster Jahr. Ohnmacht ist ein nahezu unerträglicher Zustand. Wenn ich mich nicht so wichtig genommen hätte, dann hätte ich die Macht besessen, etwas zu ändern, präventiv und umsichtig zu handeln. Ich habe eine entscheidende Chance im Leben verpasst. Mal wieder. Dabei war ich der Überzeugung, ich hätte meine egozentrische Seite im Griff. Schade. Sehr schade sogar.
Was bleibt ist in diesem Zusammenhang nicht viel. Es ist nur gerecht, dass ich nun machtlos zurückbleibe. Ich hätte Verantwortung übernehmen können und habe aber die Resignation, den Stolz und die Bequemlichkeit sowie das Vergessen gewählt. Diese Entscheidung fordert nun ihren Tribut. Das hätte ich wissen müssen. Man kann eben scheinbar doch nicht alles in Gänze bedenken und weiterdenken und zu Ende denken. Mensch sein ist nicht leicht.
Ich bin imgrunde sprachlos, wenn ich diesen Text lese. Und er rüttelt mich auf, hilft mir die Beziehungen zu überdenken, in denen ich schon viel zu lange geschwiegen habe in stummer Verstimmung. Ich möchte nicht zu viel kommentieren zu diesem für dich sicher sehr persönlichen Thema, aber möchte nur sagen, dass es trotz allem vielleicht nicht das Wichtigste ist, was du/ihr bis zum Schluss gesagt oder nicht gesagt habt, sondern das Wichtigste ist, was du fühlst über und für diesen Menschen. Das hilft vielleicht nicht viel, weil sowas in unseren Augen trotzdem einfach nur ein ungelöster Konflikt bleibt. Aber die Verbindung im Herzen ist trotzdem da – und ich bin fast überzeugt, ohne mehr zu wissen, dass es für die andere Person am Ende ähnlich gewesen sein könnte. Lieben Gruß.
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Danke für deine lieben Worte. Ich hoffe, dass du richtig liegst mit deinen Gedanken und die leise Hoffnung bleibt natürlich bestehen, dass dieser Mensch gewusst hat, wie wichtig er für mich bzw. für uns gewesen ist, auch wenn wir keine Zeit mehr hatten, es laut auszusprechen. Es tröstet mich ein bisschen zu wissen, dass diese Erfahrung nicht nur für mich wertvoll für die Zukunft und vor allem im Hinblick auf das eigene Verhalten in Konfliktsituationen sein wird:). Lieben Gruß zurück.
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Wow, da konnte ich mich sehr gut hineinfühlen, weil genau das auch in meiner Familie passiert ist. Eine Tochtee konnte/wollte sich über Jahre hinweg nicht mehr mit ihrer Mutter aussöhnen und dann war es irgendwann….zu spät. Zu spät? Ich denke nicht, dass es irgendwann zu spät ist seinen Frieden (mit einer Person) zu finden. Im Endeffekt läuft es doch auch immer auf einen internen-Konflikt mit mir selbst hinaus. Aber den kann ich immer noch überwinden und zu Grabe tragen, auch, wenn das eigentliche Begräbnis schon vorbei ist ❤
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Das stimmt natürlich. Die Streitigkeiten spielen sicher nun keine Rolle mehr. Schwierig wird es nur werden, wie du es ausdrückst, den Frieden mit mir selbst zu schließen, in dem Sinne, dass ich die Chance verpasst habe, Dinge laut auszusprechen und zu vergeben und zu verzeihen oder Vergebung zu erhalten.
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