In Frieden leben

Damit ist heute ausnahmsweise nicht nur der Wunsch nach einer heilen Welt da draußen gemeint. Dabei hätte diese Welt mehr als einen innigen Wunsch nach Frieden verdient und benötigt jeden Gedanken an eine bessere und menschlichere Zukunft.

In den letzten Wochen ist mir auf der spirituellen Ebene mehrfach der Gedanken begegnet, dass das Chaos in der Welt unser inneres Chaos widerspiegelt. Das all das Leid, der Hass und die Zerstörung unserer Lebensgrundlage tatsächlich unsere Stimmung, unsere Gefühlslage spiegelt, wundert mich wenig, ich bin nur nicht ganz sicher, wer das Ei und wer die Henne symbolisiert.

Was können wir tun, wenn wir den Frieden verloren haben? Haben wir ihn eigentlich vorher genug vermisst, um ihn jetzt zu betrauern? Wo sind wir hingegangen, womit haben wir uns beschäftigt, dass uns nicht früher der Gedanke gekommen ist, dass sich etwas ganz ganz wesentliches aus unserem Leben verabschiedet hat.

Jetzt tobt ein Sturm in mir, der alles durcheinanderwirbelt, alles aus den Regalen wirft, was nicht festgeklebt ist. Diese Regale haben alle Namen, in ihnen befinden sich Ideen, Hoffnungen, Träume und Erinnerungen. Ihr müsst nicht glauben, dass zuvor Ordnung in den Regalreihen geherrscht hätte. Es soll ja Menschen geben, die zum Beispiel ihre Bücher nach den Farben der Einbände sortieren, oder sogar nach Namen ihrer Autoren. Ich gehöre ganz sicher nicht dazu. Dennoch habe ich immer alles so ziemlich direkt gefunden, wonach ich gesucht habe, weil ich wusste, wo ich es hingelegt hatte, als ich mich das Mal davor mit meinen Sorgen oder meinen Zielen auseinandergesetzt habe. Der Staub auf manchen Regelböden hat mich selten gestört. Wohlwollend bin ich mit dem Finger über die Staubschicht gefahren, habe mir entfernte Fragen noch einmal gestellt, alte Fotos angeschaut. Wenn ich richtig motiviert gewesen bin, habe ich sogar ausgemistet. Für mich ist es leicht, mich von Altlasten zu trennen. Genauso leicht wie neue Schmuckstücke in meine Sammlung aufzunehmen und diese gut sichtbar auszustellen.

Jetzt stehe ich in Mitten des Chaos‘, das der Sturm angerichtet hat. Altes und Neues liegt verstreut und teilweise kaputt auf dem Boden zerstreut herum. Ich kann mich nicht setzen, ich kann diesen Kreis meines Lebens nicht verlassen, der sich unweigerlich vor mir ausgebreitet hat. Was mache ich jetzt mit diesem Dilemma. Fange ich an aufzuräumen? Schiebe ich die Dinge zur Seite und bahne mir einen Weg aus diesem verwüsteten Zimmer? Einfach mal durchatmen? Soll ich mich fragen, wie diese Naturgewalt Einzug in mein Wohnzimmer halten konnte? Warum gerade mich dieses Chaos trifft?

Ich habe immer gewusst, dass Ordnung halten und Staubwischen nur Momentaufnahmen sein können. Es fühlt sich gut an, den Schätzen und Lastern einen Platz zuzuweisen, dann stellt sich das Gefühl der Kontrolle ein und für einen kurze Weile fühlt sich das Leben friedlich an. Ich habe allerdings schon länger das Gefühl, dass dieser Friede sich zwar täuschend echt anfühlt, aber nichts mehr ist als eine Illusion.

Wer hätte gedacht, dass das Leben so heftig ausholen und zuschlagen kann. Wie sich Ohnmacht anfühlt, weiß ich jetzt.

Was tun, wenn die bekannten Strategien nicht mehr ausreichen, um Sinn zu generieren. Wenn wir anfangen müssen, die wirklich großen Fragen zu stellen. Wenn Angst real wird, wenn Hilflosigkeit immanent wird.

Was kann ich tun, wenn es nicht mehr in Australien brennt, aber dafür in meinem Herzen und in meinem Verstand. Wenn ich feststelle, dass ich das Leben, das ich führe, das wir alle führen, nicht mehr will. Wenn ich das Gefühl habe, dass sich etwas ändern muss und zwar schnell. Die Ordnung hat den Vorhang der Täuschung abgelegt und sich in Verwirrung und Unsicherheit verwandelt. Die vermeintliche Ruhe ist vorbei, auch wenn der Sturm sich gelegt haben mag.

Was jetzt? Frage ich mich. Was tun? Frage ich mich. Weitermachen wie bisher ist in jedem Fall keine Option.

Wer braucht Regale? Wer braucht Ordnung nach Farben? Wer braucht Kategorien? Neu denken, von vorne denken, anders handeln, sich nicht mehr verstecken – ein Anfang?

Ich will nicht in einer Welt leben, in der Menschen Angst davor haben müssen, diskriminiert und bedroht zu werden, weil sie sind, wie sie sind und wer sie sind.

Es ist so verabscheuungswürdig, was hier in unserer Mitte geschieht. Wieso lassen wir das zu? Wieso stehen nicht alle gleichzeitig auf und machen sich auf den Weg, um für eine Zukunft einzustehen, die einer Demokratie gerecht wird. Wieso verharren wir im Unglauben an das, was direkt vor unsere Augen geschieht. Wir dürfen dem Hass keine Angriffsfläche bieten. Wir müssen zusammen stehen und gütig sein. Zwischen uns darf kein Blatt Papier mehr passen. So geschlossen müssen wir durch das Chaos schreiten und neu beginnen. Wir müssen der Anfang sein.

 

One day baby we will be old, Part II

Sieht die Welt eigentlich anders aus, wenn man alt ist? Und was heißt eigentlich „Altsein“? Meine Oma zum Beispiel hat immer gesagt, sie sei „Mittelalt“, dabei war sie zu diesem Zeitpunkt schon über siebzig Jahre alt. Ich habe großen Respekt vor älteren Menschen. Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich dem Klatsch und Tratsch ältere Menschen im Bus  lausche. Von Zeit zu Zeit bin ich aber auch tief berührt, wenn ich in der Hektik des Lebens, in der vollgestopften und rüden City mit ihrem unwegsamen und überlaufendem Straßennetz Menschen beobachte, die sich tippelnd fortbewegen und mit großen, machmal auch ängstlichen Blicken das Gewusel um sie herum beobachten und aufpassen müssen, dass sie im Verkehrschaos nicht unter gehen oder einfach über den Haufen gefahren werden.

Natürlich gibt auch es regelrecht todesmutige Exemplare, die ohne nach links und rechts zu schauen einfach über die Straße laufen. Dann halte ich verdeckt hinter meinem Schal den Atem an und hoffe, dass nur sehr aufmerksame und achtsame Menschen auf den Straßen unterwegs sind und niemand verbotener Weise während des Autofahrens mit seinem Handy zu Gange ist.

Die Zeit, das Leben und die Kulissen sind im städtischen Bild durch junge, energiegeladene Artisten geprägt, die multitaskingfähig auf dem Fahrrad Termine mit dem Headset koordinieren oder philosophische Fragen erörtern, während sie sich ein Wettrennen mit dem tickenden Zeiger der Uhr leisten. Wo bleibt da der Raum fürs Älterwerden? Wo ist der Platzt für Langsamkeit, die Erinnerungen und Erfahrungen?Kann es diese Momente in der heutigen Zeit überhaupt noch geben?

Wenn ich an einem Pflegeheim vorbeilaufe, dann weiß ich, dass hinter verschlossenen Türen das Alter wartet. Es hat keine Eile, aber es wartet und bewegt sich nicht vom Fleck. Auf jeden von uns, ganz gleich wie erfolgreich wir diese Tatsache verdrängen, wartet es.

Manchmal ertappe ich mich dabei, besser gesagt frage ich mich, was meine Kinder, die nächsten Generationen von dem Leben halten werden, das wir heute führen. Ob sie dann auch milde lächeln werden? Sie werden es kaum glauben können, dass es heute noch möglich ist, Überweisungen in einen Postschlitz einer Bankfiliale zu werfen oder im Bus mit Kleingeld zu bezahlen.

Was wird sein in 30 Jahren? Was werde ich dann noch von dieser Welt verstehen? Diese Gedanken führen dann wieder zum Ausgangspunkt, dem Respekt vor den älteren Menschen heute, die ein ganz anderes Land, einen europäischen Kontinent ohne Europa und eine Welt kannten, sehr gut sogar, in der es kein Internet gab, in der das Leben analog verlief und sich der Fortschritt dennoch beständig seinen Weg bahnte.

 

Das Ende, der Anfang und die Zeit zwischen den Jahren

Licht brach sich Bahn zwischen den schwer mit Schnee bedeckten Ästen der Weiß-Tannen. Sie standen wie Zeugen still und unverwüstlich. Die Sonnenstrahlen ließen die mikroskopisch kleinen Kristalle auf den Fußabdrücken im Schnee tanzen. Das Netz aus kleinen und großen Abdrücken wurde aus alten und neuen Wegen gebildet, die sich schlängelten, kreuzten und zusammen- sowie auseinanderführten. Kein menschlicher Ton war zu hören. Hier konnte die Natur ihrem Wesen nachgehen, wild wuchern, sich ausbreiten und gedeihen. Welch Paradoxon, ging es ihr durch den Kopf. Die meisten Menschen kamen regelmäßig auf den Friedhof, um die Gräber vom Wildwuchs zu befreien. Auf der Oberfläche Ordnung zu schaffen schien das höchste Ziel, wenngleich jeder Angehörige wusste, dass das Chaos, bestehend aus Verwirrung, Wut und Wahnsinn, nie zu bändigen sein würde. Sie dachte an Heuchelei. Letzten Winter hatte es so häufig und intensiv gestürmt, dass der Schneeregen unbarmherzig jede Grabverzierung, jedes Gesteck aus Tannen und Kerzen, erst hinweggefegt und dann bedeckt hatte, sobald man es aufgestellt und die schützenden Hände entfernt hatte. Nichts bleibt an seinem Ort, dachte sie. Die Vorstellung von der Zukunft kann realistisch sein, detailgetreu, ehrlich und philanthropisch. Dennoch findet Bewegung statt, in den Köpfen der Menschen und im Leben selbst. Wozu sich dann immerzu Gedanken machen, dachte sie und lächelte obgleich ihres Geistes, den sie in diesem Moment liebevoll aus der Distanz betrachtete. Fortschritt ist gut, überlegte sie. Fortschritt im buchstäblichen Sinne. Sich weiter auf den Weg machen. Sie hatte Pläne gemacht für dieses Jahr. Eine Reise mit dem Schiff, einen Kurs im kreativen Schreiben, regelmäßige Besuche ihrer Eltern, eine Umschulung, eine kleinere Wohnung. Noch sieben Tage, bis sie sich eingestehen musste, dass sie sich erfolgreich gegen das Voranschreiten des Lebens gewährt hatte. Zum dritten Mal stand sie nun an diesem Erinnerungsort vor dem Jahreswechsel, blickte auf ihre vor dem Oberkörper gefalteten Hände und fragte sich, ob es Zeitschleifen gab. So wie in dem Film Täglich grüßt das Murmeltier. Was würde sie tun, wenn die Zeit zwar weiter von Tag zu Tag voranschreitet, aber in beschränkten Bahnen? In einem Zyklus von genau 365 Tagen? Dann müsste sie die Verantwortung nicht mehr tragen, sondern könnte sie guten Gewissens an eine höhere Macht abgeben, was sie ohnehin schon tat.

Wie jeden Dienstag hörte sie Schritte, die ihr mittlerweile vertraut waren und sah links herüber dem Hut entgegen, der, dicht ins Gesicht gezogen, getragen wurde von einem grauen Mantel und schicken schwarzen Lederschuhen, die sich im Wiegeschritt auf ihr Ziel zubewegten. Sie fragte sich, warum er diesen Aufzug wählte. Nicht nur zu Festtagen. Er musste ausschließlich mit dem Reinigen seines Mantels und dem Putzen seiner Schuhe beschäftigt sein. Er zog, wie jede Woche, den Hut als er sie sah. Sie zuckte innerlich zusammen, gab sich aber einen Ruck und hob ihre linke Hand zum Gruß. Sie sah ihm nach, als er um die Ecke gewandert war. Verbündete im Geiste waren sie. Auch wenn sie die Fakten seines Lebens nicht kannte, erkannte sie sich in ihm wieder. In dem Drang, das Vergangene zu schützen. Wie viele Jahre mochte er diesen Platz schon aufsuchen? Wie viel Zeit war verstrichen, verschenkt, seitdem ihre geliebten Menschen gestorben waren? Sie wusste, dass sie ein Verbrechen beging. Sie war sich ihrer Schuld bewusst. Sie verschenkte Lebenszeit. Ein Wind kam auf und sie zog den Kragen ihrer Jacke über die Ohren. Sie blickte einen stillen Moment auf die Schneerose, die der Kälte mit erstaunlichem Willen trotzte. Die kleine Blume reckte tapfer ihre weißen Blüten gen Himmel der Sonne entgegen. Da spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie erschrak und drehte sich der Hand entgegen. „Fröhliche Weihnachten“ sagte er. Entgeistert erwiderte sie „Gleichfalls Fröhliche Weihnachten“. „Ich dachte mir, es wäre an der Zeit, Ihnen beiden einen Besuch abzustatten.“ erklärte er. „Uns beiden?“ fragte sie irritiert. „Ja, Ihnen und Ihrem Mann.“ Sie blickte innerlich über die Schulter auf den Grabstein. „Wissen Sie, meine Frau hat immer viel Wert auf ihr Äußeres und ihre Kleidung gelegt. Ich wiederum bin eher der Freizeitlook-Typ.“ Mit einem Lächeln sagte er dies, was sie dazu veranlasste, ihm ein kleines Lächeln zu schenken und zu sagen: „Das sehe ich!“ Er grinste sie an. Da fiel ihr auf, dass er jünger war, als sie gedacht hatte. Sie fragte „Woher wissen Sie, für wen ich hier bin?“ „Ich glaube, dass wir nicht um unserer Liebsten Willen hier sind. Wir sind für uns hier. Weil wir Versprechen halten wollen, weil wir Dinge besser machen wollen als früher, weil wir treu sein wollen und wir Angst haben zu vergessen.“ Seine ausführliche Antwort gab ihr mehr Rätsel als Antworten auf. Sie schaute ihn kritisch an und gab zur Antwort „Es ist leicht, eine abstrakte Antwort auf eine unangenehme pragmatische Frage zu geben, der man ausweichen will.“ Er lachte laut auf und erwiderte: „Ich habe Ihre konkrete Frage zum einen nicht beantwortet, weil Sie die Antwort bereits kennen. Ich habe mir den Grabstein Ihres Mannes angeschaut. Zum anderen beinhaltet Ihrer Frage eine weitreichende Intention. Sie wollen wissen, warum ich mich dafür interessiert habe, wen Sie hier besuchen.“ Sie blickte beschämt auf ihre Hände, erinnert sich daran, wer sie gewesen war und sagt: „Ja, vielleicht habe ich mich das gefragt.“ „Die Antwort ist dieses Mal simpel. Ich wollte Sie gerne fragen, ob sie Lust hätten, einen Kaffee mit mir zu trinken.“ fragte er vorsichtig. „An Weihnachten?“ wunderte sie sich. „Trinken Sie zu Weihnachten lieber Tee?“ tastete er sich behutsam vor. Wieder musste sie schmunzeln. Dennoch gab sie im barsch zur Antwort: „Und dann reden wir über unser beider Schicksal und bemitleiden uns gegenseitig?“. Dieses Mal verengten sich seine Augen. „Nein. Wir könnten zum Beispiel über die Schneerosen auf dem Grab Ihres Mannes und die Orchideen auf dem Grab meiner Frau sprechen. Vielleicht haben Sie einen Tipp für mich, wie ich verhindern kann, dass sie ständig kaputtgehen.“ Dieses Mal lächelte sie wieder. „Orchideen sind keine Winterblumen. Darum gehen sie ein, wenn man sie bei bitterer Kälte nach draußen stellt“ erläuterte sie. „Sehen Sie.“ sagte er erfreut, „Sie können mir viele hilfreiche Hinweise geben und dafür würde ich Ihnen den Kaffee oder Tee ausgeben.“

Sie zögerte. Ihr Blick wanderte über das Wegenetz aus glitzernden Fußabdrücken. Ihre Wege hatten sich heute das erste Mal gekreuzt. Vielleicht, dachte sie, könnte dies der Anfang des Fortschritts sein. Vielleicht würde sie nächstes Jahr berichten können, dass sie sich ein kleines Stück in Richtung Zukunft bewegt haben würde.

„Ich würde einen Eistee trinken.“ erklärte sie entschlossen. Er schaute verwundert, nickte dann aber. Parallele Fußspuren zogen sich von dem Grab ihres Mannes zum Grab seiner Frau, stellte sie fest und sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie schön es war, dass Verbündete im Geiste Spuren im Schnee hinterlassen können.

Sonnenallee

Herbstlaub rauschte auf der Straße. Mützen wanderten wohin das Auge reichte. Menschen huschten von einem Hauseingang zum nächstgelegenen wie Ratten in der Dunkelheit, um sich vor der steifen Nordbrise zu schützen. Es war wie eine Reise, auf die sich niemand freiwillig begeben wollte. Die Kälte erbarmte sich seit Tagen nicht, die Hoffnung auf einige sonnige Spätherbsttage verblasste unter der Neonbeleuchtung, die nun bereits am späten Nachmittag die Sonnenallee in ein Meer aus unnatürlichem Schein tauchte. Wenn er an diesen Tag gedacht hatte, an dem er zurückkehren würde, wie es sich anfühlen würde, dann hatte er stets die Sonnenstrahlen auf seinen Armen gespürt, hatte die sirrend heiße, stickige und dickflüssige Großstadtluft während des Einatmens in seinen Lungen gespürt. In seiner Vorstellung hatten Kinder an der Bushaltestelle Lärm aus ihren Boxen ertönen lassen, den er nicht zuordnen konnte, hatten die Bewohner seiner Heimatstadt bauchfreie Tops getragen, die alles entblößten, was die Tattoo- und Narbenkunst zu bieten hat. In seinen Gedanken war er unzählige Male zurückgekehrt, ohne es zu wollen. Sein Geist hatte dieses Spiel in unbedachten Momenten mit seinem Bewusstsein gespielt, so oft, dass ihm diese Version der Ereignisse falsch, sogar unwahr und wie ein Betrug vorkam. Sie war gegangen und mit ihr der Sinn in allem Sein. Die mit Graffiti kunstvoll verzierten Rollläden ihres Geschäftes hatten sich seither keinen Zentimeter bewegt, dessen war er sich sicher, als er einen Moment im eisig peitschenden Wind ungeschützt vor der Hausnummer 49 stehen blieb. Er entließ mit seinem Atem alle Erinnerungen an den Tag im vergangenen Sommer, an dem er vergebens in seiner Mittagspause durch die Straßen gehetzt war, um sie zu sehen, denn wenn er wie gewöhnlich zu spät am Abend von der Arbeit kam, hatte ihr Café schon geschlossen. Ihm war die Reise auf den Hauptschlagadern der Stadt binnen einer Stunde von Charlottenburg nach Neukölln und wieder zurück wie ein Wimpernschlag vorgekommen. Er hatte nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, ob diese Fahrt es wert sein könnte. Wenn er sie hinter dem Tresen erblickte, lösten sich noch die tiefsten rationalen Grundfeste seines Daseins auf. Auf den grau an grau gestapelten Latten prangte das Logo des Cafés. Ein Kaffeebecher, in dessen Mitte sich ein Einhörnchen befand, das den Betrachter blöd angrinste. Wer denkt sich so etwas aus? dachte er. Eine Mischung aus einer hübschen Ratte und einem gehypten Fabelwesen? Er schüttelte den Kopf, fuhr sich mit der rechten Hand durch sein Haar, drehte dem Café den Rücken zu und und lief los, ohne ein Ziel zu haben. Er hatte gelesen, dass Eichhörnchen zu den Tieren gehörten, die man als Kulturfolger bezeichnet. Wie passend, sinnierte er, dass eben dieses Tier nun auf dem Kaffeebecher, dem Symbol des kulturvierten Großstädters, als Abbild, Götzenbild verewigt worden war. Er hatte sich eine gänzlich andere Ewigkeit gewünscht. Der scharfe Wind lies nach. Die Wolkentürme ragten nun fast bewegungslos über den Häuserdächern empor. Vor ihm das U-Bahn-Schild mit der Aufschrift Sonnenallee. Ein Wimpernschlag, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Er blickte nach rechts, sein Blick fiel auf die Dönerbude. Ein Stück Heimat könnte das Fernweh, das wie ein Fieber ausgebrochen war und sich in seinem Körper ausbreitete, betäuben. Als er die Tür aufschob, begrüßte ihn der vertraute Geruch nach zu altem Fett wie ein alter Freund, dessen Namen er vergessen hatte. Er bestellte eine Falafel mit Salat. Der Mann hinter der Theke fragte: „Scharf?“, „Ja, bitte.“, gab er abwesend zur Antwort. „Zum mitnehmen?“ folgte auch sogleich die zweite Frage. „Haben sie einen Geist gesehen? lautete die folgende Frage, die ihn aus seinen Gedanken riss. „Wie bitte?“ „Naja, ob sie ein Gespenst gesehen haben, wollte ich wissen?“ Der Mann hinter der Theke grinste ihn breit und mit einem freundlichen Lächeln an. „Ich, nein, wie kommen Sie denn darauf?“ „Ich weiß es nicht, sie sehen eben verwirrt aus, auch auf dem Kopf.“ Wieder lächelte der Mann, nahm das Geld entgegen, das ihm über der Theke gereicht wurde, und wendete sich der Fritteuse zu, in der goldgelbe Fritten brutzelten. „Entschuldigen Sie bitte…“ Hob er zu einer Frage an: „Kennen Sie das Café in der Treptower Str. 49?“ Der Mann drehte sich um, blickte ihn verständnisvoll an, lächelte wieder, dieses Mal zaghafter, sanfter. „Jawoll, Wunderland, das kenne ich. Besser gesagt, ich kannte es, denn es hat seit geraumer Zeit geschlossen.“ Pause. „Wir vermissen sie alle sehr. Im Sommer hat sie den Nachbarskindern heimlich Kekse zugesteckt und dabei immer ein strahlend helles Lächeln im Gesicht gehabt.“ Er stand auf, die Falafel lag perfekt eingewickelt in Alufolie auf dem Tresen. Er sah nicht zur Theke, er schob die Tür erneut zur Seite, trat in das blendend hartweiße Licht und bewegte sich erst langsam, dann immer schneller Richtung U-Bahn-Haltstelle. Jetzt rannte er, er bog um die Ecke, stürzte die Treppenstufen zu den Bahngleisen hinauf, sprintete durch den Plexiglastunnel oberhalb der Schienen und sprang in die gelbe Tram, die zur Abfahrt bereitstand. Er blickte nicht zurück. Er dachte an die Sonnenstrahlen, die auf dem Asphalt tanzten, in diesem Sommer, in der Treptower Straße 49. Er dachte an ihr Lächeln, er dachte an sein Lächeln.

Der lange Weg in die Gegenwart

Kennt ihr das auch? Immer wieder nimmt man sich so viele Dinge vor, hat tausend Gedanken im Kopf, viele gute Eingebungen und verspürt einen unbändigen Tatendrang in alle mögliche Richtungen, aber man findet keinen Anfang? Statt sich der Dinge nacheinander anzunehmen, verharrt man in Tatenlosigkeit und ertappt sich auf dem Sofa sitzend ins Nichts starrend und gibt sich seiner zahlreichen Tagträume hin, anstatt aufzustehen und raus in die Welt zu gehen…

Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich einen Blogeintrag geschrieben habe. Ich habe so oft die Lust verspürt, hätte so vieles zu sagen und zu erzählen gehabt, weil sich einige erfreuliche und aufregende Dinge getan haben und ich viel erlebt habe, aber ich habe Mal wieder keinen Anfang gefunden. Gerade habe ich einen flüchtigen Blick auf meinen Kühlschrank geworfen, der mit Postkarten, Einladungen, Eintrittskarten und allerlei Magneten plakatiert ist, und mein Blick ist dabei auf einem Brief haften geblieben. Diesen Brief habe ich ziemlich genau vor einem Jahr an mich selbst geschrieben und ihn dann mit 20 weiteren Briefen in eine Schublade gesteckt…Ihr fragt euch jetzt sicher, welchen Plan ich damit verfolgt habe… Ich kann euch beruhigen, gar keinen. Zumindest keinen Plan für mich. Mein Leistungskurs macht gerade Abitur und ich habe die Schüler vor einem Jahr gebeten einen Brief an ihr zukünftiges Ich zu schreiben, das kurz vor den Abiturklausuren steht. Dies haben die Schüler mit großer Begeisterung gemacht und ich scheinbar damals auch. Als ich diese Briefe vor drei Wochen aus der Schublade gekramt habe, habe ich nicht schlecht gestaunt, als mir mein eigener Brief wieder in die Hände gefallen ist. Ich hatte tatsächlich vergessen, dass ich ebenfalls einen Brief verfasst hatte. Erstaunt war ich vor allem darüber, dass ich scheinbar intuitiv gewusst haben muss, wie es mir heute gehen wird, denn ich habe mir selbst einige sehr passende und weise Worte mit auf den Weg gegeben. Natürlich steckt auch einige Ironie zwischen den Zeilen, aber der grundsätzliche Ton trifft dennoch den gegenwärtigen Gefühlszustand. Ich wusste genau, dass eine Zeit der Veränderung vor mir liegt, als ich mir damals schrieb, dass ich hoffen würde, heute die Konturen meiner Zukunft und der mit ihr verbundenen Träume, Wünsche und Hoffnungen etwas klarer sehen zu können, als zum Zeitpunkt des Verfassens des Briefes. Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich las, dass ich eines nicht vergessen solle:

„Ich wünsche mir, glücklich und zufrieden zu sein, Ich selbst zu sein und frei zu sein. Freiheit ist das höchste Gut. Bewahre dir diesen Vorsatz, weiche nicht ab von diesem Weg, der vor dir liegt. Glaube an die Zukunft, vertraue darauf, dass alles gut wird!“

Vergessen werde ich die Bedeutung der Freiheit sicher nie, aber vielleicht ist dieser Gedanke, ist dieser privilegierte Zustand, nicht immer präsent, dringt nicht immer bis an die Bewusstseinsschwelle. In Zeiten wie diesen ist es kaum möglich, den Wert der Freiheit zu wenig zu betonen. Ich habe sogar das Gefühl, dass wir uns dessen trotz Wohlstandsgesellschaftsdenken langsam aber sicher alle immer bewusster werden, denn die Freiheit ist bedroht und das spüren wir. Ich war sehr stolz am letzten Wochenende, als ich beobachte konnten, mit wieviel Hingabe und friedliebenden Enthusiasmus die Kölner für die Bewahrung von Vielfalt, Offenheit und Toleranz auf die Straße gezogen sind, um zu singen und zu tanzen und das Leben zu feiern, das wir in einer Demokratie leben dürfen.

Freiheit bedeutet aber auch gedanklich frei zu sein. Dies ist es auch, was ich vor einem Jahr gemeint habe, als ich mir den obenstehenden Rat gegeben habe. Auch dieser Zustand birgt wichtige Güter. Nämlich die Eigenständigkeit und die Unabhängigkeit. Unabhängig zu werden ist vielleicht gar nicht das Schwerste. Ich habe im vergangen Jahr festgestellt, dass es zumindest für mich schwieriger gewesen ist, unabhängig zu sein. Ich hätte nicht gedacht, dass es einer so langen Zeit voller kritischer Gedanken bedarf, bis ich mich auch innerlich mit diesem Zustand wohl fühle und wieder im reinen mit mir  bin. Ich habe lange Zeit meiner letzten Beziehungen hinterhergetrauert, der ich aus freiem Willen und aus tiefster Überzeugung ein Ende gesetzt hatte. Doch prompt war ich frei und unabhängig, hat mein inneres Kind angefangen zu rebellieren, mich zu beschimpfen, mein Selbstwertgefühl mit Kritik und Zweifeln zu überhäufen und mich in ein verdammt unwägbares Tal zu schupsen, aus dessen Sumpf sich heraus zu kämpfen, so verdammt harte Arbeit war. Dankbar dafür bin ich heute auch nur bedingt, was aber nicht bedeutet, dass ich nicht einige Lektionen habe lernen können, die mich auf die Zukunft mit mir selbst vorbereitet haben. Dass ich jetzt endlich in dieser Zukunft angekommen bin, ist zumindest für mich ein erhebendes Gefühl. Ich wusste schon immer, dass ich ein Beziehungsmensch bin und ich sehr gut in Beziehungen funktioniere, weil ich mich gut auf andere Menschen einstellen kann. Es hat bis hier her gedauert zu lernen, auch alleine wieder ich selbst zu sein, nur eben eine andere Facette von mir selbst, die ich erst (wieder-)entdecken musste. Die spannende Reise zum eigenen Ich ist wahrscheinlich nie ganz abgeschlossen. An sich zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln gehört zu dem universalen Bedürfnis des Menschen zu Lernen dazu, keine Frage. Obwohl man sich selbst so nahesteht, nimmt es doch einige Reflexionsrunden und hermeneutische Zirkel in Anspruch, bis man überhaupt auch nur in die Nähe des existentiellen Denkens über die eigene Person – Wünsche, Träume, Hoffnungen, innere Glaubenssätze und Überzeugungen – gelangt. Ich kann diese Reise nur empfehlen, wenngleich ich nicht gedacht hätte, wieviel Überwindung es kostet, sich selbst kennenzulernen. Ich denke, dass ich heute eine neue Beziehung oder das Kennenlernen eines potentiellen neuen Partners doch anders erleben werde, als das noch vor einem Jahr der Fall gewesen ist. Die Perspektive hat sich deutlich erweitert und das Mehr an Verständnis für mich selbst hat mich gelehrt, dass die Unabhängigkeit einer anderen Person genauso schützenswert und wichtig ist, wie die meinige. Positiv für mich waren vor allem die Reisen, die ich im letzten Jahr erleben dürfte. Eigenständigkeit bedeutet unter anderem auch, Entscheidungen zu treffen, für die man die alleinige Verantwortung übernimmt. Ich habe in der Vergangenheit immer behauptet, ich könne keine Entscheidungen treffen. Heute weiß ich, das war glatt gelogen. Ich wollte keine Entscheidungen treffen. Auf meiner „Lebens-to-do-Liste“ aus dem ersten Blogeintrag steht, dass ich keine Angst mehr haben möchte. Diese Formulierung ist sehr allgemein gehalten, aber ich kann mit Stolz sagen, dass es gelungen ist, einige Ängste, die vielleicht auch mehr Unsicherheiten gewesen sind, abzuschütteln. Sich selbst zu zeigen, was man kann, ist wesentlich schwerer, als anderen Menschen zu zeigen, was sie leisten können. Heute kann ich mich auch in meine Schüler besser hineinversetzen, wenn sie an sich selbst zweifeln und kein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten besitzen. Ich war der Auffassung, wie die meisten Erwachsenen, dass einfach nur ein guter Zuspruch nötig ist und ein wenig Motivation und dann läuft schon alles. Jetzt weiß ich, dass man gegen falsche innere Überzeugung nur mit viel Arbeit und Durchhaltevermögen und Zuversicht angehen kann und dass es eben Zeit braucht, bis man die eigene Wahrnehmung dauerhaft verändern kann.

Wieder in der Rolle des Schülers zu sein ist nicht immer leicht und angenehm, aber eröffnet die Möglichkeit, die Veränderbarkeit der Welt und die eigene Weiterentwicklung wirklich zu spüren und darauf zu vertrauen, dass neue Ziele erreicht und die eigenen Wünsche und Träume verwirklicht werden können.

Danke altes Alter Ego für deine Zuversicht!

Viele Gesichter

„Irgendwas, das bleibt!“ ist gerade ein Song, der mich zum Nachdenken bringt. Denn er beschäftigt sich unverhohlen mit unserer Generation und trifft damit auch mich und mein Leben mitten ins Herz. Und das ist gar nicht so einfach zuzugeben, wie es auf den ersten Blick scheint, denn schließlich geht es darum, dass wir immer mehr wollen und nie zufrieden sein können mit dem, was wir haben und alle stets auf der Suche sind. Darum auch die Beteuerung des Wunsches nach jemandem oder etwas, das bleibt.

Das Streben nach Glückseligkeit, nach Zufriedenheit gestaltet sich sicher schwierig, wenn wir gar nicht (mehr) wissen, wonach wir eigentlich suchen. Wir sind alle in einer Welt aufgewachsen, die uns alles geboten hat, wovon Menschen träumen dürfen: Wohlstand, Frieden und Sicherheit sowie die Aussicht darauf, dass alles möglich ist. Egal ob wir in den Bereich der Innovation in Technik und Wissenschaft schauen oder aber in den persönlichen, kreativen Bereich und dort einen Blick auf Lebensmodelle und Lebensvorstellungen werfen oder aber auf das so hoch gelobte und geachtete Projekt namens Selbstverwirklichung. Alle Türen stehen uns offen. Doch was bleibt am Ende? Diese Frage ist eine der ersten Fragen, die gestellt wird, wenn es um den Sinn des Lebens geht. Um das, was wir hinterlassen und auf das wir am Ende unserer Tage zurückblicken können. Der betreffende Maßstab ist in der Postmoderne etwas aus den Fugen geraten. Es sind nicht mehr Tugenden wie Fleiß, Treue oder Selbstlosigkeit, die uns glauben machen können, dass wir ein gutes und sinnvolles Leben geführt haben. Ganz im Gegenteil. Es ist das sich Widersetzen gegen Autoritäten und Systeme, gegen Tradition und Reaktionismus. Es handelt sich, wie so häufig, um das rebellische Aufbegehren gegen die Generation der Eltern. Also ist das, was wir, die wir Anfang oder auch Mitte dreißig sind, als Errungenschaft betrachten oder aber als Sieg über Feminismus, gesellschaftliche Konventionen und menschliche Grenzen gar nicht so neu und noch nie dagewesen, wie wir das vielleicht gerne hätten.

Im Gegenteil, es handelt sich um den Gang der Dinge, um den Lauf der Geschichte, schlicht, um einen Generationenwechsel, der sich in diesen soziologischen Verhaltensmustern manifestiert. Das ändert natürlich auf der anderen Seite nichts an unserem Lebensgefühl, das sich durch Individualismus und Freiheit sowie Ungebundenheit auszeichnet.

Jetzt komme ich langsam zum Punkt. Ich persönlich halte ja wenig von Stigmata, egal in welchem Bereich. Darum amüsiere ich mich auch stillschweigend über das viel diskutierte Etikett „beziehunsgunfähig“, das unserer Generation so gerne zugeschrieben wird. Woher dieses generalisierte Unvermögen kommt, habe ich gerade schon beschrieben. Wir haben uns frei gemacht von allen gesellschaftlichen Grenzen und Zwängen. Das ist einerseits gut und andererseits schlecht. Diese Entwicklung war wichtig, weil sie uns den Perspektivwechsel erleichtert und wir so im Stande sind, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und jegliche andere Art der Diffamierung vermeintlich anormaler Menschen oder Minderheiten einen Strich durch die Rechnung zu machen. Damit haben wir in Punkto Menschlichkeit einen großen Schritt gemacht.

Aber der Schein trügt. In den letzten Jahren haben sich nämlich die Rahmenbedingungen unseres Lebens stark geändert. Wir erliegen nun nicht mehr der Fehlannahme, dass Sicherheit und Frieden selbstverständlich und gegeben sind. Wieder ganz im Gegenteil, wir erleben gerade ein böses Erwachen. Ich könnte jetzt auf zahlreiche innen- und außenpolitische Ereignisse und Gegebenheiten hinweisen, auf die ich mir hier beziehe, aber ich denke, jeder weiß, dass wir sehenden Auges zulassen, dass die Menschenrechte und die Demokratie, für die Generationen von Menschen vor uns gekämpft und ihr Leben gelassen haben, stillschweigend untergehen.

Wir haben uns also auf gesellschaftlicher Ebene frei gekämpft von der Last der Erwartungen und Konventionen, damit WIR wir selbst sein können. Aber in einer Zeit, in der die Welt erneut ins Wanken gerät, brauchen wir, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, Strukturen und Muster sowie Anhaltspunkte, die uns Halt geben. Ergo wir brauchen Orientierung. Wer oder was liefert Orientierung: Tradition, Autoritäten, Erfahrung und Geschichte. Alles Dinge, die wir aus unserem Alltag und unserer Selbstbestimmung verbannt haben.

Also: Was bleibt am Ende? Vielleicht müssen wir die Frage anders stellen. Was bleibt für den Anfang? Wir suchen nach Sinn und Orientierung, wir suchen nach etwas, das uns Halt gibt. Eventuell sollten wir unsere Eltern oder Großeltern fragen, was sie bewirkt haben, als sie unsere Welt wieder zu einer sicheren Welt gemacht und aufgebaut haben, was wir mit einer Handbewegung milde lächelnd wegwischen. Denn unsere Unabhängigkeit und unsere Toleranz kommen nicht von ungefähr. Es war vermutlich harte Arbeit, die Gesellschaft zu schaffen, die wir heute Heimat nennen.

Wir stehen vor riesigen Herausforderungen und auch ich habe keine Ahnung, wie man ihnen am besten begegnet. Aber eines ist für mich klar. Wir haben jetzt die Aufgabe, dieses „Irgendwas“ zu definieren. Wir müssen uns gemeinsam darüber Gedanken machen, wie die Welt aussehen soll, in der wir alle zusammen unser selbstbestimmtes Leben führen wollen.

Das Leben leben lassen

Lang lang ist’s her…und jetzt weihnachtet es auch schon wieder sehr. Dies bringt kurz und knapp auf den Punkt, wie stressig die letzte Zeit war und wie immer in solchen Zeiten, fehlt die Ruhe und die Beharrlichkeit sich den wichtigen Dingen im Leben zu widmen. Auch wenn die Weihnachtszeit die Zeit der Besinnlichkeit und inneren Einkehr ist, so werden wir doch jedes Jahr aufs neue eindrucksvoll in den Strudel der Werbemacher gezogen, die nicht müde werden uns zu suggerieren, dass wir erst dann gute Freunde, Eltern oder Nachbarn sind, wenn wir das passende Geschenk zur rechten Zeit am Ziel abliefern.

Das Leben leben lassen bedeutet heute Abend für mich, sich auf eine andere abenteuerliche Reise einzulassen. Die Reise zu sich selbst. Ja ja, ich weiß, jetzt seufzen wieder einige tief und denken sich, was soll dieser ganze Unsinn mit dem Selbstfindungstripp? Keine Ahnung. Denn wenn ich das wüsste, dann würde ich mich sicher nicht auf die Reise begeben. Ich weiß nicht, ob ihr euch noch erinnert, aber auf meiner To-do-Liste im ersten Blogeintrag in diesem Jahr stand, dass ich keine Angst mehr haben möchte, vor allem vor Veränderung. Dazu gehört sicherlich auch, keine Angst mehr vor der Frage zu haben, was man vom Leben erwartet. Wenn man diese Frage ernst nimmt, dann bleibt am Ende keine Wahl. Dann muss man sich zwangsläufig auf einen Weg begeben und sehen, wohin er geht. Die Einsicht, die ich gewonnen habe, ist die: Ich kenne weder den Weg noch das Ziel. Das ist schon deprimierend. Sicher ist nur, dass sich etwas verändert und das ist gut. Das ich diese Tatsache akzeptiert habe, ist ein Fortschritt, zumindest für mich. Auf der Liste stand auch ein Tattoo, genauer gesagt ein Tattoo auf dem Allerwertesten. Um ehrlich zu sein, hatte ich keinen Plan davon, wie schwierig es ist, einen Tätowierer zu finden, der das Motiv der Wahl sticht und auch in dem Stil, wie man es gerne hätte. Geschweige denn hatte ich irgendeine Ahnung, wie teuer das ganze Unterfangen ist. Das Ergebnis kann sich allerdings sehen lassen. Jedoch nicht auf dem Hintern, sondern auf dem Rücken…sonst hätte es sich um pure Verschwendung gehandelt.

Mein Herz ist übrigens auch wieder gebrochen, obwohl ich dachte, ich sei über jegliche Enttäuschung erhaben. Das Gute daran ist, dass ich langsam beginne zu verstehen. Nicht die Welt, auch nicht die Liebe oder gar die Männer, nein, ich beginne zu verstehen, wer ich bin und warum ich Dinge tue und andere wiederum nicht. Ich habe bereits berichtet, dass ich nicht alleine sein kann. Jetzt liegen sechs Monate Singledasein hinter mir. Ich beginne langsam zu verstehen, dass ich stets auf der Suche war nach einem potentiellen neuen Partner. Ganz gleich, ob ich mir selbst vorgemacht habe, genau das nicht zu sein. Vielleicht gelingt es mir ja jetzt, nach einer schmerzvollen Zurückweisung, endlich zu akzeptieren, dass ich so bin, wie ich bin und dass ich alleine bin und es auch noch eine Weile bleiben werde UND mir das auch genauso selbst ausgesucht habe. Na dann herzlichen Glückwunsch und frohe Weihnachten!

Zukunft, Reise und Angst vor der eigenen Courage

Ich war gerade eine Woche auf Studienfahrt in Prag. Ist auf jeden Fall eine Erfahrung wert, mit halbwegs erwachsenen Schüler, die laut tschechischem Jugendschutzgesetz erst mit 18 Jahren Bier trinken dürfen, eine Abschlussfahrt nach Prag zu machen…ohne Worte, ich weiß, aber das Fahrtenkonzept unserer Schule sieht das eben so vor und als brave Beamtin folgt man natürlich den Richtlinien:) Den Schülern hat es auf jeden Fall trotz Regen und Kälte gut gefallen…ihr könnt euch sicher vorstellen warum 🙂

Nun steht eine weitere Reise an, meine erste richtige Fernreise wenn man so möchte. Es geht nach Israel. Für mich als Geschichtslehrerin ist dieses Unterfangen sicher etwas ganz besonderes und sehr aufregend. Vor allem aber weil ich noch nie den europäischen Raum verlassen habe und dann gehts direkt in ein politisch sehr instabiles Gebiet, dementsprechend panisch bin ich. Der so genannte „Nahe Osten“ ist für mich bis jetzt ein abstrakter Begriff, wenngleich ich mich jeden Tag darüber ärgere, wie unfassbar abgestumpft ich bin, wenn es um die tagesaktuellen Meldung geht, die uns hinsichtlich des Nahost-Konflikts täglich erreichen. Ich mache mir sicher keinerlei Vorstellung davon, wie es ist, in einem Land zu leben, das seit jeher so zerrüttet ist und in dem Krieg und Tod und die Bewältigung einer unfassbar traurige Geschichte auf der Tagesordnung stehen.

Ich werde gerade ein bisschen panisch, wenn ich darüber nachdenke, in welche Gefahr ich mich begebe, auch wenn ich weiß, dass jetzt einige genervt die Augen verdrehen, aber für mich fühlt es sich zumindest so an. Im Grunde ist diese Reise ein wichtiger Schritt für mich, weil es zu meinem Plan gehört, Ängste zu überwinden. Und ja ich habe Angst, ständig, nach jeder Meldung über ein Attentat, die uns erreicht. Mit ist sicherlich bewusst, dass man nirgends auf der Welt wirklich sicher ist und ich hasse dieses Gefühl. Diese schleichende Furcht, die lähmt und verwirrt. Wir sind in Frieden aufgewachsen und ich erkenne erst jetzt, welches Geschenk diese friedvolle Zeit gewesen ist. Aber eben in gewisser Hinsicht auch ein Trugschluss. Denn Frieden sollte allen Menschen vergönnt sein und wirklich glücklich und zufrieden dürften wir alle erst sein, wenn Sicherheit und Unbeschwertheit für jeden Menschen auf der Welt garantiert wären. Utopie hin oder her, ich wünsche mir diesen Zustand schon immer und ich gebe die Hoffnung nicht auf. Viel beigetragen habe ich sicherlich nicht, aber ich möchte wenigstens verstehen und mitfühlen können, das schulde ich der Mitmenschlichkeit, deren Empfinden uns doch alle auszeichnet.

Ich bin so aufgeregt, hoffnungsvoll und gespannt, was mich erwartet. Ich werde berichten.